Freitag, 11. Mai 2012

Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen.

Präambel und Artikel 1

Präambel

Jeder Mensch hat uneingeschränkten Anspruch auf Respektierung seiner Würde und Einzigartigkeit. Menschen, die Hilfe und Pflege benötigen, haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen und dürfen in ihrer besonderen Lebenssituation in keiner Weise benachteiligt werden. Da sie sich häufig nicht selbst vertreten können, tragen Staat und Gesellschaft eine besondere Verantwortung für den Schutz der Menschenwürde hilfe- und pflegebedürftiger Menschen.
Ziel dieser Charta ist es, die Rolle und die Rechtstellung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zu stärken, indem grundlegende und selbstverständliche Rechte von Menschen, die der Unterstützung, Betreuung und Pflege bedürfen, zusammengefasst werden. Diese Rechte sind Ausdruck der Achtung der Menschenwürde, sie sind daher auch in zahlreichen nationalen und internationalen Rechtstexten verankert. Sie werden in den Erläuterungen zu den Artikeln im Hinblick auf zentrale Lebensbereiche und Situationen hilfe- und pflegebedürftiger Menschen kommentiert. Darüber hinaus werden in der Charta Qualitätsmerkmale und Ziele formuliert, die im Sinne guter Pflege und Betreuung anzustreben sind.
Menschen können in verschiedenen Lebensabschnitten hilfe- und pflegebedürftig sein. Die in der Charta beschriebenen Rechte gelten in ihrem Grundsatz daher für Menschen aller Altersgruppen. Um hilfe- und pflegebedürftigen Menschen ihre grundlegenden Rechte zu verdeutlichen, werden sie in den Erläuterungen zu den Artikeln unmittelbar angesprochen.
Zugleich soll die Charta Leitlinie für die Menschen und Institutionen sein, die Verantwortung in Pflege, Betreuung und Behandlung übernehmen. Sie appelliert an Pflegende, Ärztinnen, Ärzte und alle Personen, die sich von Berufs wegen oder als sozial Engagierte für das Wohl pflege- und hilfebedürftiger Menschen einsetzen. Dazu gehören auch Betreiber von ambulanten Diensten, stationären und teilstationären Einrichtungen sowie Verantwortliche in Kommunen, Kranken- und Pflegekassen, privaten Versicherungsunternehmen, Wohlfahrtsverbänden und anderen Organisationen im Gesundheits- und Sozialwesen. Sie alle sollen ihr Handeln an der Charta ausrichten. Ebenso sind die politischen Instanzen auf allen Ebenen sowie die Leistungsträger aufgerufen, die notwendigen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung der hier beschriebenen Rechte, insbesondere auch die finanziellen Voraussetzungen, weiter zu entwickeln und sicher zu stellen.
Die staatliche und gesellschaftliche Verantwortung gegenüber hilfe- und pflegebedürftigen Menschen entbindet den Einzelnen nicht von seiner Verantwortung für eine gesunde und selbstverantwortliche Lebensführung, die wesentlich dazu beitragen kann, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern, zu mindern oder zu überwinden.

Der Hintergrund der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen


Die Charta geht zurück auf die Arbeiten des  „Runden Tisches Pflege“. Dieser wurde von 2003-2005 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem damaligen Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung einberufen, um die Lebenssituation hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in Deutschland zu verbessern. Rund 200 Expertinnen und Experten aus allen Verantwortungsbereichen der Altenpflege (u.a. Länder, Kommunen, Ein richtungsträger, Wohlfahrtsverbände, private Trägerverbände, Heimaufsicht, Pflegekassen, In te res sen vertretungen der älteren Menschen, Wissenschaftler, Stiftungen) beteiligten sich.
In Arbeitsgruppen wurden bis Herbst 2005 Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der häuslichen und stationären Pflege und zum Bürokratieabbau erarbeitet und als zentrale Maßnahme eine „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ formuliert. In der Charta wird konkret beschrieben, welche Rechte Menschen in Deutschland haben, die der Hilfe und Pflege bedürfen.

Das Projekt wird gefördert vom:

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
www.bmfsfj.de
Die Charta besteht aus 8 Artikeln. Die nächsten Artikel werde ich dann posten.

Artikel 1: Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe


Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Hilfe zur Selbsthilfe und auf Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen zu können. 
Willens- und Entscheidungsfreiheit, Fürsprache und Fürsorge
Sie haben das Recht auf Beachtung Ihrer Willens- und Entscheidungsfreiheit sowie auf Fürsprache und Fürsorge. Die an der Betreuung, Pflege und Behandlung beteiligten Personen müssen Ihren Willen beachten und ihr Handeln danach ausrichten. Das gilt auch, wenn Sie sich sprachlich nicht artikulieren können und Ihren Willen beispielsweise durch Ihr Verhalten zum Ausdruck bringen. Menschen, deren geistige Fähigkeiten eingeschränkt sind, müssen ihrem Verständnis entsprechend in Entscheidungsprozesse, die ihre Person betreffen, einbezogen werden.
Wahl des Lebensortes, der Pflege und Behandlung der Gestaltung des Tagesablaufs
Sie können erwarten, dass gemeinsam mit Ihnen sowie gegebenenfalls Ihren Vertrauenspersonen und den für Ihre Betreuung, Pflege und Behandlung zuständigen Personen abgewogen wird, wie Ihre individuellen Ziele und Wünsche unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten verwirklicht werden können. Auch wenn Sie selbst nicht in der Lage sind, alleine Entscheidungen zu treffen oder Ihre Wünsche zu artikulieren, sollen die oben genannten Personen dafür Sorge tragen, dass in Ihrem Sinne gehandelt wird. Das betrifft beispielsweise die Wahl Ihres Lebensortes, des Pflegedienstes, der stationären Einrichtung und des Arztes sowie auch die Durchführung hauswirtschaftlicher, pflegerischer oder therapeutischer Maßnahmen und die Gestaltung Ihres Tagesablaufs. Die Behandlung durch Ihren vertrauten Haus- oder Zahnarzt sowie auch der Bezug Ihrer Medikamente über Ihre gewohnte Apotheke, sollen Ihnen auch dann möglich sein, wenn Sie in einer stationären Einrichtung leben.
Regelung finanzieller, behördlicher oder rechts-geschäftlicher Angelegenheiten
Das Recht auf Selbstbestimmung betrifft auch Ihre finanziellen, behördlichen oder rechtsgeschäftlichen Angelegenheiten (Antragstellung, Ausfüllen von Formularen oder Begleitung bei Behördengängen), für deren Regelung Sie die erforderliche Unterstützung erhalten sollen. Personen, die Sie beraten und unterstützen, müssen in Ihrem besten Interesse handeln und dürfen nichts unternehmen, was Ihnen wirtschaftlich oder rechtlich schaden würde.
Berücksichtigung von Vorausverfügungen
Für den Fall, dass Sie zu einem späteren Zeitpunkt Ihren Willen nicht mehr äußern können, haben Sie die Möglichkeit, Vorausverfügungen (Handlungsanweisungen und Vorsorgevollmachten) zu erstellen. Ihr darin geäußerter Wille muss Berücksichtigung finden. Darüber hinaus ist es ratsam, vorab zu bestimmen, welche Person als Betreuerin oder Betreuer durch das Vormundschaftsgericht bestellt werden soll, falls für Sie eine Betreuung erforderlich werden sollte (Betreuungsverfügung). (Weitere Ausführungen hierzu finden Sie unter Artikel 8).
Abwägungen zwischen Selbstbestimmungsrechten und Fürsorgepflichten
Nicht selten kommt es zu Konflikten zwischen dem Anspruch, das Recht auf Selbstbestimmung des hilfe- und pflegebedürftigen Menschen zu beachten und bestimmten Fürsorgepflichten der Pflegenden und Behandelnden (beispielhaft sind Situationen wie Nahrungsverweigerung oder Sturzgefährdung). Sollte eine solche Situation auftreten, können Sie erwarten, dass mit allen Beteiligten abwägende Gespräche geführt werden.
Einschränkungen
Die Möglichkeiten der Selbstbestimmung, die Entscheidungs- und Verhaltensfreiheit haben ihre Grenzen beispielsweise dort, wo Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten anderer berührt werden. Finanzielle sowie strukturell bedingte Rahmenbedingungen (z.B. erforderliche Eigenmittel oder regional vorhandener Mangel an Hilfeangeboten) können im Einzelfall die Wahlmöglichkeiten eingrenzen. Das Ziel, das Selbstbestimmungsrecht hilfe- und pflegebedürftiger Menschen so weit wie möglich umzusetzen, verpflichtet dennoch alle an der Betreuung, Pflege und Behandlung Beteiligten.
Hilfe zur Selbsthilfe vorbeugende und gesundheitsfördernde Maßnahmen
Sie haben ein Recht darauf, die erforderliche Unterstützung zu erhalten, um ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Auch wenn bereits erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen oder ein hoher Pflegebedarf bestehen, haben Sie Anspruch darauf, dass alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um einer weiteren Verschlechterung vorzubeugen bzw. um eine Verbesserung zu erzielen. Das heißt zum Beispiel, dass Sie Anspruch auf Zugang zu (fach-) ärztlicher Versorgung, zu diagnostischen Verfahren, medizinischen Behandlungen, Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen – unabhängig vom Alter oder einer Behinderung – haben. Ebenso betrifft dies den Zugang zu individueller gesundheitsfördernder Anleitung, die Ihnen unter anderem dazu verhelfen soll, weitgehend unabhängig von der Hilfe anderer zu sein. Pflegerische Maßnahmen und Hilfestellungen sowie medizinische und therapeutische Behandlungen sollen so erfolgen, dass geistige und körperliche Fähigkeiten unterstützt und gefördert werden und darauf abzielen, dass Ihre Lebensqualität, Ihr Wohlbefinden erhalten oder verbessert werden und dass Sie alltägliche Verrichtungen soweit wie möglich selbst erledigen können.






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